Module 3 – Der Einfluss der Kultur auf die berufliche Bildung (VET)

[nextpage title=“Lebenslanges Lernen und berufliche Bildung“]

Insbesondere in Europa hat sich die Gesellschaft in den letzten zwei Jahrzehnten stark verändert. Die Gesellschaft ist innerhalb der EU insgesamt kulturell heterogener geworden, da Menschen sowohl zwischen Ländern der EU umziehen als auch aus einem Nicht-EU-Land in ein Land innerhalb der EU migrieren (zu den Einwanderungsraten siehe https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Migration_and_migrant_population_statistics ). Das bedeutet, dass viele (junge) Erwachsene in einem Land zu leben und zu arbeiten anfangen, dessen Sprache sie vielleicht noch nicht sprechen und dessen Institutionen sie noch nicht kennen. Integration in die Gesellschaft erfordert die Fähigkeit, sich an neue Umstände anpassen zu können. Dies gilt sowohl für die Neuankömmlinge als auch für die aufnehmende Gesellschaft. EU-Gesellschaften müssen auf allen Ebenen anpassungsfähig sein: auf politischer, institutioneller, wirtschaftlicher und individueller. Die Gesellschaft, ihre Organisationen und Einzelpersonen müssen in der Lage sein, auf diese Veränderungen konstruktiv zu reagieren und ihre Strukturen an neue Herausforderungen anzupassen (https://km-bw.de/,Lde,W-2/Startseite/Kultur_Weiterbildung/Lebenslanges_lernen).

Bereits 1995 hat die Europäische Union das Jahr 1996 zum „Europäischen Jahr des lebenslangen Lernens“ ausgerufen: „Einem lebensbegleitenden Lernen kommt eine wesentliche Rolle bei der Aufgabe zu, die persönliche Entfaltung dadurch zu gewährleisten, daß Werte wie Solidarität und Toleranz vermittelt und eine Teilnahme des einzelnen an den demokratischen Entscheidungsprozessen gefördert wird“ (95/431/EC: Decision No 2493/95/EC of the European Parliament and of the Council of 23 October 1995 establishing 1996 as the ‚European year of lifelong learning‘, http://data.europa.eu/eli/dec/1995/2493/oj).

Solidarität und Toleranz sind, wie in der obigen Erklärung betont wird, zwei Werte, die eine kulturell heterogene, sich wandelnde Gesellschaft auf allen Ebenen – auch auf der individuellen – ständig fördern muss. In diesem Zusammenhang legt das Konzept des lebenslangen Lernens implizit den Schwerpunkt auf interkulturelle Aspekte als Teil der persönlichen Entwicklung und Anpassung, damit Veränderungen in der Gesellschaft und im Arbeitsleben besser bewältigt werden können.

Am Ende dieses Moduls werden Sie erfahren haben:

  • wie kultureller Hintergrund und Lehr-/Lerngewohnheiten sich gegenseitig bedingen
  • welche Faktoren, für gewisse Lernkulturen charakteristisch sind
  • wie Stolpersteine in interkulturellen Kommunikations- und Lernsettings identifiziert werden können.

[nextpage title=“Kultur und Lernen“]

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Trainer[1] in der beruflichen Bildung, der es gewohnt ist, erwachsene Teilnehmer mit interaktiven, nicht frontalen Lehrmethoden zu schulen. Ihre Teilnehmer erwarten jedoch einen lehrerzentrierten Vortrag mit Ihnen als unnahbarem Lehrkörper. Wie könnten die Teilnehmer – Ihrer Erfahrung nach – auf hochgradig interaktive Übungen reagieren?

Kultur hat einen Einfluss auf Lern- und Kommunikationspräferenzen von Lernenden und Lehrenden sowie auf den Aufbau einer Lernumgebung. Das bedeutet, dass der persönliche kulturelle Hintergrund auf beiden Seiten erkennbar ist: auf der Seite der Trainer und Ausbilder in der Art und Weise, wie Trainings durchgeführt werden, und auf der Seite der Teilnehmer in der Erwartungshaltung, wie ein Training zu sein hat. Als Folge der sozialen Veränderungen der letzten Jahre, die die Gesellschaft multikultureller haben werden lassen, sind auch die Lernsettings in der beruflichen Bildung heterogener geworden. Trainerinnen und Trainer können einen anderen kulturellen Hintergrund haben als ihre Zielgruppe, oder auch die Lerngruppe selbst kann multikulturell sein. Dies stellt sowohl Lehrende als auch Lernende vor neue Herausforderungen. Wie im EPALE-Podcast erklärt (https://ec.europa.eu/epale/de/blog/intercultural-learning-adult-education //), kann es passieren, dass Lernende, die an formellere Lernsettings gewöhnt sind, zögern, sich z.B. auf Interaktion und weniger strukturierte, erfahrungsorientierte Lernaktivitäten wie Peer-Coaching und Rollenspiele einzulassen. Als Lehrende ist es daher wichtig, die Lernumgebung und die Aktivitäten an die Zielgruppe anzupassen, um optimal mit der Lerngruppe arbeiten zu können.

Aus Gründen der Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt, nichtsdestoweniger beziehen sich die Angaben in diesem wie auch in anderen Fällen auf Angehörige beider Geschlechter.

[nextpage title=“Kulturelle Faktoren und Lernstile „]

In ihrer neueren Studie zu kulturellen Faktoren und Lernstile kommen Simy Joy und David Kolb zu dem Schluss, dass Kultur, da sie den Modus gestaltet, wie ihre Mitglieder aus Erfahrungen lernen, auch die Art und Weise beeinflusst, wie neue Informationen empfangen und verarbeitet werden. Dies wirkt sich folglich auf das Handeln an sich aus (s. Joy, Kolb 2009).

Das Konzept der ‚Kulturdimensionen‘kann helfen, Präferenzen für bestimmte Lernstile, Lernumgebungen und pädagogische Methoden zu erklären. In seiner bekannten Theorie der Lernstile kombiniert David Kolb (z.B. im Modell des experimentellen Lernens, Kolb 1985) Präferenzen für bestimmte Arten der Erkenntnisgewinnung (von der konkreten Erfahrung zur abstrakten Konzeptualisierung) mit bestimmten Arten der Informationsverarbeitung (von der reflektierenden Beobachtung zum aktiven Experimentieren). In ihrer Studie über Lernstile und kulturelle Unterschiede nutzten Joy und Kolb (z.B. Joy, Kolb 2009) die in der GLOBE-Studie (https://globeproject.com/) vorgeschlagenen Kulturdimensionen und Ländercluster, um systematische Verbindungen zwischen den bevorzugten Lernstilen der Menschen und ihrer Herkunftskultur zu analysieren. Es ließen sich tatsächlich Verbindungen aufzeigen. Joy und Kolb fanden zum Beispiel eine Beziehung zwischen den Kulturdimensionen der Unsicherheitsvermeidung bzw. des Kollektivismus/Individualismus und Präferenzen für bestimmte Lernstile heraus.

So bevorzugten Befragte aus Kulturen, die bei den Dimensionen der Unsicherheitsvermeidung, Zukunfts- und Leistungsorientierung eine hohe Punktzahl erreichten (z.B. Deutschland, Österreich und Singapur), die Wissensaneignung durch abstrakte Konzeptualisierung, während Befragte aus Kulturen, die bei Werten der Unsicherheitsakzeptanz höher lagen (z.B. Italien und Polen), die Aneignung von Wissen durch konkrete Erfahrungen präferierten (Joy, Kolb 2009: 31ff.).

Nehmen Sie sich kurz Zeit zum Nachdenken: Wissen Sie, welchen Lernstil Sie persönlich bevorzugen? Berücksichtigen Sie üblicherweise bei der Gestaltung Ihrer Trainings die verschiedenen Lernstile Ihrer Lerngruppe?

Auch andere Studien wie z.B. Manikutty, Anuradha, Hansen 2007 arbeiten mit Kulturdimensionen im engeren Sinne. Die Autoren beschreiben, wie Kulturdimensionen im Klassenzimmer erkannt werden können. Die folgende Übersicht zeigt, wie Lehrende den Unterricht gestalten und wie Lernende den Ablauf des Unterrichts aufgrund bestimmter Ausprägungen der Kulturdimensionen erwarten:

MachtdistanzHochNiedrig
Trainer/Lehrende

 

Vermittlung von:

Autorität und Wissen,

Trainer/Lehrende als Träger von Wissen.

Geringer formeller Autorität

Trainer/Lehrende als Vermittler und Moderatoren.

 

Lernende/Teilnehmer

 

Bevorzugung von:

Passivität,

Kein In-Frage-Stellen der Lehrenden/Trainer

Wissensaneignung.

Annahmen zur Haltung der Lehrenden/Trainer beeinflussen die Einstellungen der Teilnehmer.

Aktiver Teilnahme,

Kritischer Einstellung zu Trainer/Lehrende.

Bevorzugte InteraktionsmodiFrontal,

Fragen und Antworten,

Vorlesungen.

Interaktion,

Diskussionen,

Rollenspiele.

 

Individualismus/KollektivismusIndividualismusKollektivismus
Trainer/Lehrende

 

Vermittlung von:

Input für DiskussionenVermeidung von Gesichtsverlust bei Trainern/Lehrenden und Teilnehmern/Lernenden
Lernende/Teilnehmer

 

Bevorzugung von:

 

Verfolgen eigener GedankenKein In-Frage-Stellen der Studienkollegen,

Anpassung an die Mehrheitsmeinung,

intuitivem Verstehen, Vermeidung von Gesichtsverlust bei Trainern/Lehrenden und Teilnehmern/Lernenden.

 

Bevorzugte InteraktionsmodiDiskussionen,

Selbstbestimmtes Lernen, Suche nach eigenen Lösungen.

Bevorzugung von Konfliktlösungsstrategien, die gemeinsam gefunden und von der gesamten Gruppe getragen werden,

wenig Diskussionen,

Einbeziehen verschiedener Quellen (Kontextualisierung, Nachahmung, Übung, Demonstration.

 

UnsicherheitsvermeidungHochNiedrig
Trainer/Lehrende

 

Vermittlung von:

Klaren Lernzielen,

Genauen Anweisungen,

Detaillierter Aufgabenstellung,

Striktem Zeitplan.

Möglichkeit zur Änderung und Anpassung der Struktur,

positiver Einstellung gegenüber spontaner Mitarbeit.

 

Lernende/Teilnehmer

 

Bevorzugung von:

 

Klaren Lernzielen,

Genauen Anweisungen,

Detaillierter Aufgabenstellung,

Striktem Zeitplan,

Sammeln von Informationen,

Genauem Verstehen des Themas.

Änderung und Anpassung der Struktur,

Spontaner Mitarbeit.

Bevorzugte InteraktionsmodiMultiple Choice Fragen,

Strukturierte Übungen.

Offene Fragen,

Diskussionen.

Nehmen Sie sich einen Moment Zeit zum Nachdenken: Wie können Sie die obige Tabelle nutzen, um mehr über Ihre eigenen Erwartungen und Gewohnheiten und die Ihrer Lernenden zu erfahren? Wie können Sie die Tabelle nutzen, um einen neuen Blick für die Auswahl von Übungen und Trainingsformate zu bekommen?

[nextpage title=“Stolpersteine im kulturübergreifenden Lernen“]

Was passiert, wenn sich der kulturelle Hintergrund von Lehrenden von dem ihrer Lernenden unterscheidet? Es können zusätzliche Stolpersteine auftreten, wie die höhere Wahrscheinlichkeit auf unterschiedliche Werte zu treffen, auf andere Kommunikationsstile, Interaktionsgewohnheiten sowie auf abweichende Erwartungen an das Lernumfeld.

Unabhängig von den kulturellen Dimensionen, die unser Handeln entsprechend unserer verinnerlichten Kultur regulieren, hat LaRay M. Barna (1991) sechs Stolpersteine identifiziert, die zu interkulturellen Missverständnissen führen können:

  1. Annahme von Ähnlichkeiten: Vielleicht denken Sie manchmal: „Sind wir nicht alle Menschen?!“ Die Tatsache, dass alle Menschen gemeinsame biologische und soziale Bedürfnisse haben, bedeutet nicht, dass sie gleiche Werte und Einstellungen besitzen.
  2. Sprachunterschiede: Ist es Ihnen schon passiert, dass Sie und Ihr Gegenüber sich beide sehr gut auf Englisch verständigen konnten, Sie dennoch das Gefühl hatten, nicht immer die volle Bedeutung zu erfassen? Oder Sie beobachteten bei sich selbst mal eine gewisse Ungeduld gegenüber dem umschweifenden Kommunikationsstil Ihres Gegenübers? Sprachunterschiede können sich auch auf einen anderen Kommunikationsstil, eine andere Wortwahl oder eine andere Bedeutungszuschreibung beziehen.
  3. Non-verbale Missverständnisse: Ist es Ihnen schon einmal passiert, dass Sie über Handbewegungen eines Gesprächspartners irritiert waren? Gesten und andere Körperbewegungen können ebenso aussagekräftig sein wie verbale Sprache. Sie nicht ‚lesen‘ zu können, kann zu einer Kommunikationsbarriere führen.
  4. Vorurteile und Stereotypen: Vielleicht ist es Ihnen schon passiert, dass Sie dachten: „Oh ja, diese Person hat dunkles Haar, dunkle Augen und ist ziemlich laut. Diese Person muss mediterraner Herkunft sein.“ Stereotypen reduzieren die Komplexität unserer Realität und helfen uns bei der Orientierung. Sie können aber auch zu einer voreingenommenen Sicht auf die Welt um uns herum führen.
  5. Neigung zu Bewertungen: Ist Ihnen aufgefallen, wie schnell manchmal das Verhalten einer Person aus einem anderen Land gebilligt oder missbilligt wird? Oder wie schnell ein Urteil darüber gefällt wird, was richtig oder falsch ist? Um Missverständnisse zu vermeiden, ist es hilfreich, den Standpunkt des anderen einzunehmen.
  6. Stress: Ist es Ihnen schon einmal passiert, dass Sie bei Stress nicht die Geduld hatten, die Situation aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten? Stress führt oft zu Abwehrmechanismen, die die adäquate Interpretation einer bestimmten Situation behindern.

Die Berücksichtigung dieser Punkte kann helfen, sich der Unterschiede zwischen den Menschen bewusst zu werden. Sich ihrer bewusst zu sein, kann dazu beitragen, das Verständnis für den ‚anderen‘ zu erhöhen. Es kann aber auch hilfreich sein, Gemeinsamkeiten herauszufinden.

Nehmen Sie sich einen Moment Zeit zum Nachdenken: Wie ist Ihre Vorgehensweise, wenn Sie sich mit jemandem aus einer anderen Kultur treffen? Versuchen Sie herauszufinden, ob Sie gemeinsame Interessen, gemeinsame Vorlieben – zum Beispiel für Essen – oder ähnliche Gewohnheiten haben.

[nextpage title=“Test“]

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Kultur zeigt sich in den Lerngewohnheiten der Lernenden

Trotz der Veränderungen in vielen europäischen Ländern sind die Lernsettings in der Berufsbildung immer noch homogen

Je nach ihren Lerngewohnheiten werden sich die Lernenden leichter an bestimmten Arten von Übungen beteiligen als an anderen

Lehrer können die Lernstile ihrer Zielgruppe ignorieren und das gleiche positive Lernergebnis erzielen

Bestimmte Lerngewohnheiten lassen sich mit Hilfe des Konzeptes der "Kulturdimensionen" erklären

In Kulturen mit hoher Machtdistanz zeigen Lernende oft folgendes Verhalten:

Lernende, deren Kultur die Kulturdimension ‚Individualismus‘ stark ausgeprägt hat

In Kulturen, bei denen die Kulturdimension ‚Unsicherheitsvermeidung‘ stark ausgeprägt ist, sind bevorzugte Interaktionsmodi in Lernsettings:

Wie viele Stolpersteine der interkulturellen Kommunikation gibt es laut L. Barnga?

Welche der folgenden Faktoren sind Stolpersteine in der interkulturellen Kommunikation?


[nextpage title=“Bibliographie“]

Bücher und Fachartikel

Barna, L. M. (1991) ‘Stumbling blocks in Intercultural Communication’ in Samovar, A. and Porter, E. (eds.), Intercultural Communication. A Reader. 6st ed. Belmont, California: Wadsworth Publishing Company, S. 345-353.

House, R. J. (2011) Culture, leadership, and organizations: the GLOBE study of 62 societies. 5th edn. Thousand Oaks, California: Sage.

Joy, S. Kolb D. A. (2009) ‘Are there cultural differences in Learning Style?,’ International Journal Of Intercultural Relations, 33(1), S. 69-85.

Kolb, D.A. (1985) LSI. Learning-style inventory. Boston, MA: McBer and Company.

Manikutty, S. and Anuradha, N.S. and Hansen, K. (2007) ‘Does culture influence learning styles in higher education?‘, International Journal Of Learning And Change, 2(1), S. 70-87.

Links

Electronic Platform for Adult Learning in Europe (EPALE) Verfügbar unter: https://ec.europa.eu/epale/de/blog/intercultural-learning-adult-education // (Letzter Abruf: 30.7.2019)

European Parliament and Council, Decision No 2493/95/EC of. Verfügbar unter: http://data.europa.eu/eli/dec/1995/2493/oj (Letzter Abruf: 30.7.2019)

Eurostat Verfügbar unter: https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Migration_and_migrant_population_statistics (Letzter Abruf: 30.7.2019)

Bundesministerium für Kultus, Bildung und Sport Baden-Württemberg Verfügbar unter:

https://www.km-bw.de/,Lde,W-2/Startseite/Kultur_Weiterbildung/Lebenslanges_lernen (Letzter Abruf 31.7.2019)

The GLOBE Project Verfügbar unter https://globeproject.com/ (Letzter Abruf: 31.7.2019)

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